Blick in die Ausstellung: ESPACE LIBRE, 1998Marie-Thérèse Vacossin






Objektive Methoden bringen Farben zum Vibrieren


Zur Befreiung vom realen Gegenstand hatte die vibrierende Farbe seit dem Impressionismus wesentlich beigetragen. In der Folge hatte sich die Farbe immer einmal wieder der geometrischen Form unterordnen müssen, gelegentlich hatte sie sich aber auch großartig emanzipiert. Es war weise von Josef Albers, in der in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts begonnenen langen Reihe der "Quadratbilder" die Quadrate wörtlich als Teller zu bezeichnen, die Farbe jedoch als die Suppe, auf die es ihm ankam. Es war sein Credo, dass die Farbe das relativste Mittel aller Gestaltungsmittel sei. Sie wurde - war sie es nicht schon immer? - die dominante sinnliche Erfahrung, noch vor der physikalischen und psychologischen Theorie. Sie wurde zum subjektiven Test. Zum Testfall führte die "Interaktion der Farben", welcher Grenzen gesetzt waren durch die "Teller". Die Grenzen der Farben sollten sich jedoch noch mehr als die bloße großflächige Farbe als ganz bedeutende Stimulanz der Farbwirkung erweisen. Denn es hatte sich an zahlreichen Beispielen gezeigt, dass die rein monochrome Fläche zwar im Moment zu überwältigen vermag (wenn man sozusagen zur Fliege auf der Fläche wird), dass sie aber zur vollen sinnlichen Erfahrung auf die Dauer nicht zu genügen vermag, dass ihre Forderung zu einseitig ist. Rupprecht Geiger, der der großen Farbfläche wie wenige in Deutschland eine begeisternde Wirkung zu verschaffen verstand, forderte selbst, dass man der Farbe helfen müsse. Er tat es, indem er öfter kleinere Farbfelder als eine Art objektive Momente der großen Farbfläche entgegensetzte. Es sind solche objektiven Momente - Methoden -, die in den letzten Jahrzehnten zur Gewinnung stärkerer und gezielterer Farbwirkung das Bild der Konkreten Malerei maßgeblich bestimmten. Der Subjektivität in der Verwendung der Farbe ist es zu danken, dass trotz der Ähnlichkeit der geometrischen Unterstützung feine Differenzen die Konkrete Kunst bereichern, dass zum Beispiel nicht gleich Streifen, Bänder nicht gleich Bänder sind.
Eine besonders lange Erfahrung darin, wie man der Farbe hilft zur starken Leuchtkraft und zur Vibration - jenseits der Monochromie - hat sich die in Paris geborene Marie-Thérèse Vacossin erworben. Die Frucht ist eine außergewöhnlich intensive Auseinandersetzung mit der Farbe zur Steigerung ihrer Wirkung. Ihre Werke sind deshalb schon lange nicht mehr einfach als Objekte von dieser oder jener geometrischen Begründung her zu bewerten, sondern sie sind zu bewerten durch das, was sie bewirken. Und ihre Kunst ist insgesamt eine Vermittlung sinnlicher Erfahrung. Dennoch fragt man nach, wie diese Vermittlung geschieht, wobei die große monochrome Farbfläche - ein all over - für Marie-Thérèse Vacossin nicht in Frage kam. Sie suchte und fand sensiblere Methoden, die Farbe zum Vibrieren zu bringen. Von anderen Autoren wird jedoch mit Recht darauf hingewiesen, dass sie sich trotz einer "tiefen Verwurzelung in der französischen Maltradition, u.a. der Impressionisten" einer bestimmten Kunstbewegung nie angeschlossen hätte.
Wenn es zum Beispiel um die Steigerung der Farbe Blau geht, gerät man bei Werken von Marie-Thérèse Vacossin in sprachliche Not, indem neue Wortverbindungen mit "blau" gesucht und gefunden werden müssten. Zu den bereits phantasievollen Namen von "himmelblau" bis "orientblau". Es drängen sich überdies synästhetische Formulierungen von Tonhöhen und Klangfarben auf, mit denen Vibration allgemein in Verbindung gebracht wird. Der Versuch einer Beschreibung lässt sich jedoch auch mit Hilfe der Verhältnismäßigkeit der gestaltenden Mittel unternehmen. So fällt auf, dass Vibration oder Schwingung in ihren Arbeiten am stärksten in der unmittelbaren Umgebung der blauen Linien auf dunkelblauem Grund entsteht. Oberflächlich betrachtet stellt sich der Vergleich mit dem Reiheninstrument ein, dem Vibraphon. Die Künstlerin spielt virtuos mit der Menge der Linien, mit ihrer Häufigkeit und dadurch bedingt auch mit ihrer Breite. Jede Nuancierung ergibt eine Änderung der "Klangfarbe". Es kommt dabei auch vor, dass die Wirkung nicht von den Linien ausgeht, sondern vom durchscheinenden Blaugrund, das heißt, dass die Linien zum Gitterwerk werden. Das sind Phänomene, welche der Gestaltpsychologie zugrunde liegen: je stärker die Gestalten, umso größer der Zwang, wobei diese Phänomene sozusagen die Rolle der "Teller" innehaben. Die Wirkungen sinnlicher Erfahrungen zu erzielen, bleibt aber künstlerischer Sensibilität vorbehalten.
Besonders beachten wird man, dass die vertikalen Reihenlinien nicht durchgängig vom oberen zum unteren Bildrand verlaufen.

Eugen Gomringer, März 2004

zurück