Lothar Quinte



Einführungsrede von Wilhelm Warning

"Spiegelbilder", Bilder und Gouachen
15.07.2000 - 18.08.2000

Lassen sie mich, meine sehr verehrten Damen und Herren, mit dem scheinbar rätselhaften Wort eines vietnamesischen Zen-Meisters des Neunten Jahrhunderts beginnen, das der einem seiner Schüler hinterließ: "Wo ist Indien? Es ist genau hier. Die Sonne und der Mond Indiens sind unsere Zeit. Berge und Flüsse Indiens sind die Berge und Flüsse unserer Zeit."
Angesichts der Bilder von Lothar Quinte hier um uns, erlaube ich mir, diesen Weisheitssatz etwas umzuändern: Wo ist Indien? Es ist genau hier. Die Werke um uns sind die Werke unserer Zeit. Es sind keine historischen Bilder, gemalt von Lothar Quinte in Goa, in Indien oder in Wintzbach im Elsaß. Keine zum Bild geronnenen Ereignisse eines Damals. Sie finden vielmehr hier statt. Jetzt. Im, ganz buchstäblich, Augenblick. Ihre Kraft ist die Kraft der Gegenwart. Sie sind nicht zu analysieren, sondern zu erfahren. Denn sie sind ein Ganzes. Sie wirken als Ganzes, unzerlegbar.
Ich darf die Erfahrung ein wenig aus ganz eigener Sicht verdeutlichen. In meinem Zimmer, direkt neben dem Schreibtisch, lehnt ein Bild von Lothar Quinte. Das Schwarz neben mir begleitet mich, während ich diese Rede schreibe. Das dunkle Feld, auf weißgraue, fast durchscheinende Leinwand aufgebracht vibriert, es bewegt sich. Scharfe Seitenränder sind nicht auszumachen. Geheimnisvollerweise ist das Schwarz kein Schwarz, sonder farbige Dunkelheit. Man ahnt andere Schichten. Kann oben und unten sogar Spuren davon erkennen. Ansätze von Gelb, Rot und Blau. Starke Farben, zur Ruhe gebracht und trotzdem in Bewegung. Draußen fällt die Dämmerung. Das Bild lebt. Es scheint sich zurückzuziehen und doch immer mehr den Raum zu füllen. Es hat jetzt etwas Unheimliches, als ob es das letzte Licht im Raum verschlingt. Trotzdem strahlt es auch etwas aus. Eine Art schwarzer Helligkeit. Ein eigenes Licht. Die graue Leinwand wirkt transparent. Durchscheinend, wiederscheinend. Darüber herabgeflossene, schwarze Farbspuren. Kein Gestus. Keine Expression, sondern bewusst gesetzt und geronnen: eine zur Ruhe gekommene, gleichmäßige Bewegung. Erinnerung an den Malprozess. Trotzdem sind die Farbspuren lebendige Dynamik im Bild. Im Jetzt, der Wirkungs- ,wie im Damals, der Entstehungszeit. Schichten überlagern sich, die nicht zu trennen sind. Farbschichten. Aber eben auch Zeitschichten. Vergangenes wird zur Gegenwart, ist gegenwärtig. Was der Maler in einer bestimmten Zeit 1976 schuf, fällt jetzt, nach fast 25 Jahren meinen Raum als Einheit. Die Wirkung der überlagerten Farb- und Zeitebenen lässt sich nicht mehr in Einzelteile trennen. Ich denke an das Video, das ich von Lothar Quinte gesehen habe. Er, der eher Wortkarge, sagt darin, angesprochen auf sein Menschenbild, ihm sei die äußere Gestalt nicht wichtig. Der Mensch sei vor allem ein innerliches Wesen, das mache ihn aus und nur das interessiere ihn, den Maler. Auch der Mensch ist eine Einheit, mehr als die Summe seiner Teile oder Aspekte, obwohl die Zeitläufe etwas anderes zu vermitteln scheinen, etwa moderne Medizin die Menschen mit auswechselbaren Ersatzteilen versorgt. Oder manipulierte Gene für neue Züchtungen. Die Schöpfung passgenau gestylt. Heute Nachmittag, als Sonnenstrahlen ins Zimmer fielen, es sich mit Helligkeit füllte, hatte das Bild stärker vibriert. Eine Hin- und Herbewegung. Die vertikalen Farbspuren hatten Festigkeit ausgestrahlt, hatten als Architektur zentrierende Dynamik, hatten das nach außen strebende Vibrieren in seiner Bahn bewahrt und ihm dadurch Nachruck, Kraft verliehen. Am Rande links wischte ein gelblicher Hauch in den Raum, rechts verlor sich blaue Transparenz ins zarte Grau. So entstand das Bild, einem Klang gleich in meinem Zimmer, wie ein mächtiger, schwingender, pulsierender und sich stetig verändernder Akkord, der Zwiegespräche hält mit dem Licht.
Nun, im Halbdunkel der heraufziehenden Nacht, inzwischen nur noch beleuchtet vom Schein der abgeschirmten Schreibtischlampe, wirken die vertikalen Linien wie dichte schwarze, zarte Streifen. Sie liegen über dem dunklen, am Tage fast schwarzen Grund, verschließen ihn. Jetzt, im Fast-Dunkel, leuchtet er, wird heller, sendet bläuliches Licht aus großer Tiefe. Er ist nicht mehr verschlossen, verschluckt nichts mehr, sondern gibt in den Raum hinein ab. Fast ein Strahlen ist das, das von ganz Innen kommt. Lothar Quinte, der Silberhaarige, der ein wenig knurrig wirken kann und wortkarg, hat in einem Interview mit Peter Iden gesagt: "Abgesehen von ganz frühen gestischen Bildern habe ich immer die Ruhe in der Bewegung, die Implosion der Farbe statt der Explosion gesucht, aliterarisch, akompositionell."
Keine Komposition. Aber natürlich sprechen wir über die Komposition. Über Farbe und Form und wie sie zueinander stehen, über die Kräfte, die gestalterisch wirken. Über das Kunstwerk, das bei Quinte Kunst ist und nichts anderes. Keine Handschrift im Sinne eines Gestus. All das ein darüber schreiben, sprechen, ein "in Begriffe fassen". Es bleibt nichts anderes übrig. Denn Sprache, sehen wir von der Lyrik ab, ist analytisch kann uns eben nur im Nacheinander zeigen, was im Bild gleichzeitig geschieht. Quinte spricht vom Bild als Ganzheit, als Einheit. Das Verhalten einzelner Teile zueinander interessiert ihn nicht. Denn das Bild ist Zustand, Einheit, die gesehen, erfahren werden kann. Wir sind wieder bei der Erfahrung gelandet.
Erfahren heißt übrigens auf Altgriechisch aisthanestai. Unser so oft so missverständlich auf Schönheit reduzierte Begriff "Ästhetik" leitet sich hier ab. Der griechische Ausdruck "aisthesis" aber bedeutet "Wahrnehmung" auf ganz anderer Ebene: Denn diese "Wahrnehmung" ist verbunden mit Begriffen wie "Gefühl" und "Empfindung", darüber hinaus mit "Erkenntnis", "Verständnis" und "Bewusstsein". Das Wort "Ästhetik" setzt also ein höchst umfangreiches Erfahren voraus, ein überaus genaues Betrachten, ein gewissermaßen "mit Haut und Haaren" Aufnehmen all dessen, was sich darbietet. Ein, wie das Verb sich übersetzen lässt "wahrnehmen, empfinden, bemerken", ein "vernehmen". Dann wird es zum Erfahren. Und erst, was ich erfahren habe, habe ich verstanden, habe ich eingesehen. Denn auch damit lässt sich dieses komplexe Wort "aisthanestai" übersetzten. Lothar Quintes Bilder sind im wahrsten Sinne ästhetisch. Es sind Erfahrungen. Es sind Botschaften, die ich nicht durch reine Analyse, durch Zergliedern verstehen kann. Dann zerstöre ich die Einheit und die Bilder verschließen sich. Ich kann sie nur verstehen, wenn ich ihnen anders begegne. Wahrnehmend, empfindend. "Quintes Malerei", heißt es in einem Katalog, "ist vollkommen voraussetzungslos zu betrachten." Und: "Die Bilder lassen sich nicht eindeutig beschreiben und damit verfügbar machen."
Tich Nhat Hanh, ein zeitgenössischer vietnamesischer Zen Meister, berichtet davon, wie einer seiner großen Vorgänger, der Zen-Meister Linh Chi einmal sagte: "Wenn Du dem Buddha begegnest, töte den Buddha. Wenn Du dem Patriarchen begegnest, töte den Patriarchen." Und Tich Nhat Hanh erläutert dieses fremde Wort folgendermaßen: "Die Wahrheit besteht nicht aus Begriffen. Daher ist es notwendig, unsere Begriffe zu töten, damit sie der Offenbarung der Wirklichkeit selbst Platz machen. Den Buddha zu töten, ist der einzige Weg, ihn zu sehen. Jeglicher Begriff, den wir uns von Buddha machen, kann uns daran hindern, den Buddha in Person zu sehen.
Am Ende des kurzen Videos sieht man das so ausgeprägte Gesicht von Lothar Quinte mit den kritischen, wachsamen Augen, er blickt an der Kamera vorbei, blickt ins Weite und sagt: "Ich kann nicht schreiben. Ich kann nicht meditieren. Ich kann nicht malen." Und er fügt an "Hoffentlich."
Dann bleibt das Bild stehen, Quinte verharrt im Blick aufs Weite. Lassen sie mich schließen mit einem Satz aus Kandinskys berühmter Schrift "Über das Geistige in der Kunst": "In jedem Bild ist geheimnisvoll ein ganzes Leben eingeschlossen, ein ganzes Leben mit vielen Qualen, Zweifeln, Stunden der Begeisterung und des Lichtes." Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.

Wilhelm Warning


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