Edgar Gutbub: Stuhl Nr. 4, 1997/98, blau, MDF/Acrylfarbe, 90 x 45 x 45 cmEdgar Gutbub








Raum der kleinsten Hütte -
Überlegungen zum Werk von Edgar Gutbub



Die traditionelle Betrachtungsweise von Skulptur kennt zwei prinzipielle Methoden ihrer Herstellung: Aus dem Block oder Stamm geschlagen oder vom Skelett (sprich Drahtgerüst) heraus entwickelt. Also einmal von außen nach innen - die Erweckung des ungeformten Blocks; zum anderen die Beseelung des Skeletts - von innen nach außen. Die meisten Bildhauer haben beide Methoden beherrscht, aber es gibt signifikante Künstler für je eine dieser Methoden. Beispielsweise Michelangelo, der Steinbildhauer, der wahre Wunderwerke, vom Odem des Lebens angehaucht, dem starren Block entlockte. Oder Alberto Giacometti, der Skulptur zur Apotheose des Skeletts stilisierte, als Sinnbild der Schutzlosigkeit und Gefährdung irdischen Daseins, aber auch Schutzlosigkeit gegenüber dem Raum, der Unendlichkeit, der Unmessbarkeit, der Unvorstellbarkeit. Die Entdeckung des Raumes als skulpturales Problem (analog der Entdeckung der Fläche als malerisches Problem) ist eine Leistung unserer Zeit. Wir Bildhauer haben der Skulptur eine bis dahin nicht denkbare und nicht gedachte ästhetische Dimension hinzugewonnen - und wie so oft in der Kunstgeschichte beeinflusst von der Erweiterung des physikalischen Weltbildes. Wir sind - trotz Atombombe - Kinder Einsteins. Die durch Einstein in die Welt gekommenen Erkenntnisse sind unter anderem auch unsere Themen und unsere Arbeiten leben durchaus vom abstrakten Fixierbild der Formeln und Zeichen, den Hieroglyphen unserer Tage.
Die traditionelle Betrachtungsweise von Skulptur ist gebunden an figürliche Darstellung im weitesten Sinne und an die jeweilige architektonische Situation, die den Sinn von Skulptur zwar nicht begründet, aber ihren Standort und ihre Dimension bedingt. Frei und selbständig ist Skulptur erst in unserem Jahrhundert geworden, weil sie zu ihrem ursächlichen Thema gefunden hat: Raum und Nichtraum, Masse und Nichtmasse. Und um nichts mehr und nichts weniger geht es. Dies, und nur dies, ist der Sinn von Skulptur. Und dadurch eröffnen sich neue Betrachtungsweisen. Nicht, dass die Traditionellen ihre Gültigkeit verloren hätten, aber die gewonnene Freiheit, der verborgen gewesene Geist der skulpturalen Freiheit bedingt eine neue Sicht und ihr gehört unsere künstlerische Phantasie. Wir sind gefordert, für neue Einsichten die adäquate formale Sprache zu finden und die adäquaten Materialien - der gute alte Bronzeguss dürfte kaum noch das adäquate Material sein. (Freiheit ist nicht nur die Befreiung von äußerem Zwang oder Gewaltanwendung, sondern insbesondere die Befreiung von geistiger Begrenzung, von innerem Zwang, von selbstgestellter Engstirnigkeit. Einsicht bedeutet einsehen, einsichtig werden in neue Bezüge. Befreiung durch Einsicht, durch Hinsicht - vielleicht ist dieser, für die Psyche des Künstlers, des Gratwanderers, so wichtige Begriff von Freiheit das, was man im religiösen Denken Offenbarung nennt.)
Eine dieser neuen, für die Skulptur gewonnenen Einsichten ist die Linie, verstanden als Raumkoordinate, als optisches Hilfsmittel für die Unmessbarkeit des Raumes - jeder Telegrafendraht in der Landschaft kann so gesehen werden. Künstler wie die russischen Brüder Gabo und Pevsner, Norbert Kricke oder Günther Uecker haben ihr Lebenswerk auf dieser neuen Sicht des Raumgrafischen aufgebaut. Was an Masse scheinbar verloren ging, wurde an Transparenz des Geflechts hinzugewonnen. Masse als durchsichtiges, rhythmisiertes Volumen; dem schwingenden Ährenfeld näher als dem starren Block. Die gesprengten Blöcke Ulrich Rückriems beispielsweise bezeugen die Bedeutung der Linie, nicht durch die Masse. Der Schnitt ins Fleisch ist wichtiger als das Fleisch.
Eine weitere neue Sicht ist die Erkenntnis über die Hülle, über das Geheimnis der Haut oder des Fells (die äußerste Schicht eines Organismus), bezogen auf Edgar Gutbubs Skulpturen: das Dunkel des leeren Kastens. Da man Keramik nur als Gebrauchsgegenstand gesehen hat, übersah man das spezifisch Skulpturale eines keramischen oder jedes gefäßhaften Gegenstandes: die Trennung von Außen- und Innenraum. Denn: Außen- wie Innenraum beinhalten den gleichen Raum, denn er ist leer, weil nicht feststellbar und deshalb nicht vorstellbar. Was bleibt ist Trennung, Hülle, Hütte, Haut. Menschliches Denken konkretisiert sich in Begriffen, aber Raum wie Zeit entziehen sich jeder Begrifflichkeit, also verbleibt der Begrenztheit menschlichen Denkens nur die Möglichkeit der Umschreibung. Das Fell, die Hütte, die Behausung. Ein gefülltes Gefäß, ob mit Urin oder Wein oder sonstwas, symbolisiert das Leben, ein ungefülltes Gefäß ist lediglich ein ästhetischer, ein skulpturaler Gegenstand, gefüllt mit Leere.
Die Umhüllung, die Behausung, die Behäutung des Menschen schützt vor der Kälte der Unvorstellbarkeit. Denn die Welt ist unwirtlich, sie braucht den Menschen nicht, sie existiert ohne ihn; er ist zwar in ihr, aber überflüssig, außer dem Sinn, den er sich selbst setzt. Und in der Hybris seiner Selbstsetzung ("und machet Euch die Erde untertan", 1. Moses 1, Vers 28) bleibt er verbannt in die Geborgenheit der Hülle. Er braucht die Hülle, es friert sich zu sehr in der Kälte der Unendlichkeit. Und diese Verbannung in die Hülle oder die Hütte ist ein künstlerisches Thema. An der Eroberung des Weltalls wird der Mensch scheitern, die Hütte wird ihm bleiben - so Gott will.
Die Behütung vor der astronomischen Kälte ist Edgar Gutbubs Thema. Edgar Gutbub, der Eremit der ästhetischen Einsamkeit: Ich kenne keinen Künstler, der so konsequent die Sehnsucht des Menschen nach Behausung und Behütung zu seinem Lebenswerk gemacht hätte. Für Edgar Gutbub ist Raum kein philosophisches Thema, sondern buchstäblich "Raum in der kleinsten Hütte". Und auch dies ist eine neue Sicht von Skulptur, die nicht den Menschen, sondern seine Bedingungen zum Thema hat.
Die alte Mühle zu Mistlau, die Edgar Gutbub bewohnt, ist sein Lebensspaß, die durch das Haus laufende Schächte und Schluchten sind seine Inspiration, sein Raum der kleinsten Hütte im dunklen Kasten, obwohl die Mühle, seine "Hütte" mehr als geräumig ist. In dieser scheinbaren Absurdität erweist er sich als geistiger Nachfahre, als "Gutbub" existenzialistischer Lebenshaltung.

Thomas Lenk: Edgar Gutbub - Arbeiten 1965-1991, Hällisch-Fränkisches Museum Schwäbisch Hall, 1992

zurück