Felicitas Gerstner




Wahrheiten des Wachses



Text zur Ausstellung "Songbirds dream of singing"
28.05.2011 - 29.07.2011



Die Münchner Künstlerin Felicitas Gerstner arbeitet in der uralten Technik der Enkaustik.
Soweit wir heute wissen, wurde das Malverfahren der Enkaustik im antiken Griechenland erfunden. Pausias von Sikyon galt in der griechischen Klassik als unübertroffener Meister in der Enkaustik, was sich heute nicht mehr verifizieren lässt, weil keines seiner Werke die spätantiken Bilderstürme überlebt hat. Im enkaustischen Malverfahren überliefert sind ägyptische Mumienporträts aus den Jahrhunderten um die Zeitwende. Und sie bezeugen bis heute eine hervorstechende Eigenschaft der Enkaustik: ihre Farbigkeit. Das Wort Enkaustik stammt aus dem Griechischen und bedeutet ins Deutsche übersetzt nichts anderes als eingebrannt. Genau hier ist einer der Gründe zu finden, warum sich auch in der Gegenwart Maler wie Felicitas Gerstner dieses aufwendigen Verfahrens bedienen. Die Hauptschwierigkeit beim Verfertigen enkaustischer Bilder liegt darin, dass die im Wachs gebundenen Farbpigmente heiß auf den Bildträger aufgebracht werden müssen. Das setzt eine genaue Vorbereitung und Kontrolle des Malvorgangs voraus, damit sich die intendierten Ergebnisse erzielen lassen, denn kurzfristige Korrekturen sind nicht möglich. Da die farbige Wachsschicht mehrere Millimeter stark sein kann, lassen sich auf enkaustischen Bildern singuläre Tiefenwirkungen erzielen, ohne dass perspektivische Tricks oder Relief-ähnliche "Oberflächengebirge" zu Hilfe genommen werden müssten. Felicitas Gerstner hat ihre künstlerische Ausbildung zur Bildhauerin in den 80er-Jahren beim Bildhauer Michael Croissant an der Frankfurter Städelschule erhalten. Werke wie ein Bildhauer oder Plastiker zu schichten und zu bauen, umschreibt ihr Vorgehen präziser als ein Vergleich mit Malern, sie sich der Öl- oder Acrylfarbe bedienen. Erkennbar bewegt sich Felicitas Gerstner im Bereich der nichtgegenständlichen Malerei. Viele Bilder von ihr atmen den Geist Mondrians, aber der Dogmatismus des niederländischen Klassikers findet bei ihr wenig Widerhall. Das Verhältnis von durch Linien gegliederten Farbflächen zueinander ist aber auch für ihr Werk konstitutiv. Die Strenge ist bei ihr jedoch einer gelassenen Natürlichkeit gewichen, die die Existenz einer von Hand gezogenen Linie in ihrer Unregelmäßigkeit zu würdigen weiß. Auch das Spiel mit der Unschärferelation an Farbgrenzen beherrscht die Malerin souverän und verleiht manchen Bildern eine Ahnung von der grundsätzlichen Verschwommenheit aller Dinge, die das technikverliebte Zeitalter so ungern zugibt. Die gleichsam vor farblicher Intensität vibrierenden Bildwerke Felicitas Gerstners leben zudem vom Rhythmus der schwingenden Liniengitter, sodass deutlich wird, warum die Künstlerin für die Präsentation ihrer neuen Arbeiten einen Titel wählt, der die Assoziation mit der Welt der natürlichen Musik der Vögel ausspricht. Kurz vor dieser Galerieausstellung können zwei mehrteilige Installationen der Enkaustik-Spezialistin zudem im modernen Sakralraum der Schwabinger Kreuzkirche in der Hiltensperger Straße 57 betrachtet werden. Dieser Präsentation hat Felicitas Gerstner den doppeldeutigen Titel Wachsen und Leuchten gegeben. Am Sonntag, den 29. Mai, findet nach dem Gottesdienst, der um 9.30 Uhr beginnt, die Finissage dieser Ausstellung statt.

Rüdiger Heise: Wahrheiten des Wachses, APPLAUS Kultur-Magazin 6/2011, S.52-53.

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