Andreas Brandt Andreas Brandt





Einführungsrede von Herrn Professor Eugen Gomringer




"Niebüller Bilder I und II"
11.09.1998 - 21.11.1998

Sollte sich jemand unter uns befinden, der mit der Ortsbezeichnung "Niebüll" - denn Andreas Brandt zeigt ja heute zur Open Art bei Gudrun Spielvogel gleich in beiden Galerien "Niebüller Bilder" - nicht ganz klar komme, so lässt sich das fürs erste geographisch zum Beispiel einfach so erklären, dass Niebüll Garmisch-Partenkirchen gegenüberliegt, gegenüber im hohen Norden des Landes, ungefähr auf gleicher Höhe mit Sylt und Flensburg. Als eine Art Pilgerstätte ist Niebüll bekannt durch das Atelier und das Museum von Emil Nolde.
Nun aber wohnt und arbeitet Andreas Brandt in der hübschen, properen Kleinstadt. Er hat 1986 ein großes Haus erworben und ist 1986 von Berlin in den "hohen Norden" umgezogen. Was für eine besondere Bewandtnis es mit dem großen Haus, das ehemals Schul- und Jugendhaus war, sonst noch hat, das nachzulesen, möchte ich jedem Verehrer des Künstlers im Beitrag von Sabine Weder-Arlitt zur Monographie über Andreas Brandt sehr empfehlen. Seine Entscheidung für das große Haus war auch eine Entscheidung mit Folgen für die Kunst. Wenn wir die beiden Galerien von Gudrun Spielvogel besuchen, sehen wir, was sich aufgrund dieser Entscheidung in der Kunst von Brandt änderte. Es war ja eine Entscheidung, die uns jahrelange Beobachter seines Werkes aufs höchste in Erstaunen versetzte, ja beinahe ungläubig werden ließ.
Ich darf kurz wiederholen, dass sich Brandt 1970 endgültig von einer deutlich geometrisch-konkreten Kunst löste und mit den vertikalen Streifen ein unverwechselbar eigenes Bildkonzept entwickelte, das ihn vielleicht zu früh für seine Verehrer auf eine bestimmte Streifenteilung im Blickfeld, wenn auch in großartigen Variationen von Proportionalität und Bewegung, festlegte. Auf alle Fälle fiel die Änderung von Niebüll 1986/87 so grundlegend aus, wie es nur eine Änderung vom Querformat zum Hochformat sein kann, eine Drehung um 90 Grad, eine Drehung vom Liegen zum Stehen. Es betraf dies anfangs nur das Bildformat, die senkrechten Streifen blieben senkrecht, ungefähr so, wie wenn sich alles dreht, nur das Pendel schwingt weiter wie immer. Es mag viele Leute geben im System der Kunst, welche in einer solchen Drehung des Bildes nicht mehr als ein "was soll's" empfinden. Da trennen sich dann Welten. Für so eine sparsame, hoch konzentrierte Kunst, wie sie Andreas Brandts Kunst eigen ist und wie sie uns Kompass, Pendel oder Richtschnur bedeutet, ist eine solche Drehung eine Sinneswandlung.
Brandt empfand nun aber, dass die Vertikalstreifen, die im Querformat eine Breitenbewegung verursachen, nun nach oben und unten sozusagen durchliefen und sich im gleichsinnigen Hochformat nicht halten ließen. Er musste die senkrechten Streifen im Hochformat binden mit waagerechten Streifen. Es entstand ein Gitterwerk. Heckmanns sprach schon früher in der Begegnung von Farbe und Form von der dialogischen Bildform. Mir scheint, dass man in den neuen Niebüller Bildern seit 1987 erst recht von einer dialogischen Bildform sprechen kann, indem die beiden Progressionsrichtungen, die vertikale und die horizontale, rein formal sich dialogisch verhalten. Sie fördern sich und sie halten sich auch gegenseitig zurück.
Niebüll brachte also ungeahnte Komplexität in das Bildkonzept von Andreas Brandt. Dabei sind die Farben noch gar nicht erwähnt. Es heißt jetzt zum Beispiel "Schwarz und Blau überkreuzt" (1988) oder "Schwarz und Rot überkreuzt", "Schwarz und Grau überkreuzt". Alles Bilder von 1988. Dann aber setzt bald ein anderer Vorgang ein. Wir haben den Eindruck, dass Brandt das komplexe System der senkrechten und waagerechten Struktur im zusätzlichen Farbe-Form-Dialog wie einen Lebensabschnitt ausgekostet hat. Er wird wieder einfacher. Statt, dass er die Senkrechte mit senkrechten Streifen überbetont, lässt er waagerechte Streifen progressiv senkrecht aufsteigen. Es sieht aus, als wären jetzt erst Bilder, der vor Niebüll-Zeit, die großen breiten waagerechten Formate zu senkrechten Formaten geworden. Und in der Tat kommt er auch wieder auf das Querformat zurück, nun aber mit waagerechten Streifen. Die verbale Beschreibung ist kaum noch in der Lage diese Vorgänge wiederzugeben.
Doch es geschieht noch etwas, worüber sich sprechen lässt. Brandt führte die Streifen plötzlich nicht mehr über die ganze Breite, sondern unterbricht einen waagerechten Streifen bzw. lässt ihn nur als Teilstück bestehen und setzt das Streifenmotiv zum Beispiel nach einem Zwischenraum mit einem in anderer Farbe gehaltenen Teilstück fort. Man stelle sich das vor, wenn das Bildkonzept eine "Vierstreifen-Progression" vorsieht, dann ergibt sich nicht nur in der einen senkrechten Richtung ein Dialog, es setzt auch einer ein in der unterbrochenen Waagerechten, die überdies noch zweifarbig ist. Solche unterbrochenen Streifenbilder nehmen mehrere Jahre in Anspruch. Dabei ist jedoch nochmals ein Schritt wahrnehmbar. Er besteht darin, dass Teilstücke reduziert werden zu kleinen Quadern. Alles verläuft evolutionär. Die Teilstückstreifen werden zu kleinen Rechtecken und aus den kleinen Rechtecken ergeben sich ganz deutliche Quadrate oder es bilden sich neue Dialoge zwischen Formen, indem sich Rechtecke mit Quadraten abwechseln. Schließlich begegnen sich auch nur noch einige wenige Quadrate und, fast zuletzt, gibt es Konzepte aus scheinbar losen Gruppen kleiner Formen, die man kaum noch geometrisch ansprechen möchte. Sie scheinen höchst geordnet im Raum zu schweben, sie gehören einer anderen Semiotik an.
Unwillkürlich stellt sich also der Begriff "Raum" ein - es wäre schon früher an der Zeit gewesen, die Streifen und ihre Progressionen als Zeitabläufe im Raum darzustellen. Zeit und Raum werden nun aber den reduzierten Formen geradezu fassbar deutlich durch die Zwischenräume und die Abstände. Wer denkt nicht an musikalische Notationen? Ja, Zeit und Raum werden messbar, wobei oft eine Farbe den Ton angibt und eine andere, zurückhaltendere, sozusagen als zweite Stimme sie paraphrasiert. Brandt ist von der Malerei ausgehend, synästhetisch in andere Bereiche vorgestoßen. Kein Wunder, dass versucht wird, seine Vorgabe mit Sprachkürze und einigen Tönen aufzunehmen. Und um es ganz deutlich zu sagen nicht der versteckten Werbung bezichtigt zu werden, darf ich bemerken, dass wir wieder einmal eine Mappe zusammen gemacht haben und dass jetzt auch noch ein Komponist im gleichen Sinn und Geist, Roland Dahinden aus der Schweiz, dabei ist, so dass nun also mehrere Sinneswahrnehmungen als Ausdruck einer Gesinnung sich vereinigen. Gudrun Spielvogel wird nicht umhin kommen, die kleine feine Mappe Ihnen morgen in der neuen Galerie vorzustellen.
Bleibt vielleicht noch ein Wort zum Kontext. Es konnte nicht ausbleiben, dass diese Kunst evolutionärer Reduktion der Formen bei gleichzeitiger Öffnung zu einer immensen Denkweite den Schweizer Konkreten, insbesondere von der Art eines Camille Graeser, kongenial erscheinen musste. Im großen Überblick ist denn festzustellen, dass Brandt im Formenvokabular und in der Nutzung der einen und anderen Bildmethode die Züricher Konkreten studiert hatte, dass er aber im raum-zeitlichen Verhältnis eigene Schritte vollzogen hat und den Konkreten der orthodoxen Schule schon bald entwachsen war. Andreas Brandt ist seine eigene Kategorie geworden, offen für viele und vieles, streng aber gegen Beliebigkeit und Ungeist der Zeit.

Eugen Gomringer

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